Ringbahnschleife
„Nehmen wir an”, begann Sophie und lief auf eine Vierersitzecke zu, wir hinterher. Ich ließ mich am Fenster nieder und mein Blick glitt über das morgenmufflige Berlin. Wir waren die einzigen Partyüberreste in der S-Bahn.
„Also, nehmen wir an, ich lerne ihn so ganz ungezwungen kennen und plötzlich werden wir die dicksten Freunde und dann...”, Kim verdrehte jetzt schon die Augen, „findet er mich besser als seine Freundin und wir kommen zusammen. Ist das dann Ausspannen?”
Marion neben mir kratzte sich am Kinn. „Ich würd sagen... nö. Wenn er sich verknallt, ist das nicht deine Schuld, andererseits...”
„Tüllisch is dit Ausspannen!”, protestierte Kim und riss eine Chipstüte auf. „Du willst ihn seiner Freundin wegnehmen, darum jeht's doch!”
Kim hielt mir die Tüte unter die Nase, ich nahm das Angebot an.
„Aber, wenn das Schicksal ist? Ich meine, manche Menschen passen halt besser zusammen, dafür kann ich ja nichts!”
Marion schlug die Beine übereinander und legte elegant ihre Handflächen auf dem Knie ab. „Ich jedenfalls verteidige, was mir gehört. Wenn sie nicht völlig blöd ist, macht sie das auch.”
Kim kicherte. „Du sei ma' janz leise! Du verbietest deinen Schatzis jeden Kontakt zu Single-Lesben. Hart übertrieben halt!”
Marions Ohren wurden rot. „Tu ich nicht! Zumindest nicht ohne triftigen Grund! Außerdem”, sie tauschte die Beinposition, „Luzie war bi, da musste ich doppelt aufpassen!”
„Wie die Jeschichte ausjegangen is wissen wa ja.”
„Dann war sie nicht die Richtige, mach dir nichts draus,” fügte Sophie hastig ein. „Aber vielleicht bin ich ja seine Richtige und er weiß es noch nicht?”
„Kannst ja seine Freundin auschecken und kieken, ob du überhaupt 'ne Schangs hast”, schlug Kim vor.
Sophie streckte die Hand in Richtung Chipstüte aus. Kim musterte sie von oben bis unten. „Sicher, dass du dit tun willst?” Sophie hob eine Braue und zog trotzig einen Chip hervor.
Die S-Bahn hielt an. Meine Augen fesselte ein Werbeplakat mit leicht bekleideten Frauen, die auf einer Waschmaschine saßen, untertitelt mit: „Vergiss die Alte, wir haben die Neue!” Ich wendete den Blick ab. Als die S-Bahn weiter fuhr breitete ich die Flügel aus und flog über Berlin, über vollgekotzte Parkanlagen, Fabrikmassive, glitzernde Bürogebäude in denen sich Wolken spiegelten, schlafende Hinterhöfe. Dann flog mein Gedanke zu dir. Ich begann mich zu fragen, was du wohl gerade machtest. Im Hintergrund hörte ich noch das Rauschen des Gesprächs, das sich im Kreis drehte.
Ich wusste, du bist mit Marie und Penny feiern gegangen. Vielleicht warst du noch auf der Tanzfläche und wolltest dich nicht von einem Flirt loslösen. Vielleicht bist du mit zu ihr gefahren, oder zu ihm und würdest mir morgen hibbelig von deinem Abenteuer erzählen. Vielleicht lagst du gerade wach und streicheltest ihre oder seine Schulter und dachtest an mich. Vielleicht würdest du mir bald gestehen, dass da mehr daraus werden könnte. Ich würde sie oder ihn bald kennenlernen und dir irgendwann beichten, dass ich eifersüchtig bin. Dann würden wir eins von diesen Gesprächen führen und den Elefanten im Raum, Eifersucht genannt, in eine Mücke zurückverwandeln. Vielleicht würde ich Angst haben vor Veränderung. Aber wahrscheinlich würde ich auch neugierig sein, was das für ein Mensch ist, der dich fasziniert hat, was wir lernen werden, von einander, aus Fehlern, von ihr oder ihm. Und wer weiß, vielleicht, also ganz vielleicht, man weiß ja nie, würde ich mich auch in diese Person verlieben und sie in mich und...
Ich begann darüber nachzudenken, wie du mich vor ein paar Monaten angeschaut hast, als ich dir von dem Affärchen mit Alex erzählt hatte. Nicht verkrampft, nicht gönnerhaft, nur ein Blick, der verriet: Ich freu mich, dass du mit noch jemandem intime Stunden erlebst.
Ich lehnte meinen Kopf an die Scheibe und begann mir die Person vorzustellen, in die du dich heute verliebt haben könntest. Vielleicht war er ein impulsiver Mensch, begeisterungsfähig und direkt. Oder sie war ein Nerd, eröffnete gerade einen Laden mit Fan-Shirts und hatte ein Faible für Fantasyromane. Wie kam ich denn jetzt bloß auf Fantasyromane?
Das Hintergrundrauschen verstummte.
Kim unterbrach die peinliche Stille: „Ick find, wir ham dit Thema nun echt ausjelutscht. Mach halt waste denkst, aber wundre dir nich, wenn sie dir die Augen auskratzt. Er jehört dir ja nich.”
„Zumindest noch nicht”, fauchte Sophie.
„Schluss jetzt”, stöhnte Marion und drehte sich zu mir. „Du hast ja noch gar nichts gesagt! Erzähl mal was. Warum hast du deine Liebste eigentlich nicht mitgenommen? Was macht die denn heute?"
„Ach...”, ich schnappte mir die Chipstüte und fummelte ein Paar letzte Krümel hervor. „Vermutlich ist sie zuhause geblieben und hat einen Fantasyroman gelesen.”
Paula Balov, 2015